Ich zeichne, seit ich denken kann – und vielleicht sogar schon davor. In der Grundschule wechselten meine Comic-Zeichnungen häufiger den Besitzer als Pausenbrote, und meine Schwester (die mich früh und liebevoll gefördert hat) brachte mich mit zehn erst richtig auf den Geschmack. Mit 14 entdeckte ich den Surrealismus – und damit die Welt hinter der Welt: innere Räume, Traumlandschaften, Linien aus dem Unterbewusstsein.
Nach dem Abi stand ich vor der großen Frage: Informatik, Kunst oder Grafikdesign? Die Kunst war mir zu verkopft, die Informatik zu trocken – also wurde es der goldene Mittelweg: Visuelle Kommunikation in Münster. Seit meinem Diplom 1993 arbeite ich als Grafikdesigner und Art Director in einer Kommunikationsagentur – mit Herz, Verstand und ordentlich Kaffee.
Kurz darauf fand ich nicht nur meinen Stil, sondern auch meine große Liebe: meine Frau Jutta. Gemeinsam haben wir zwei wundervolle Töchter großgezogen. Und wie das Leben so spielt, rückte die freie Kunst in dieser intensiven Zeit ein Stück nach hinten. Aber keine Sorge: Sie hat nur kurz geschlafen.
Seit die Kinder aus dem Haus sind, ist wieder Raum für das, was mich im Innersten antreibt – die spontane, intuitive Linie. Ohne Plan, ohne Radiergummi, einfach drauflos: Fineliner trifft Kraftkarton, Herz trifft Hand, und der Kopf darf Pause machen. Dabei taucht in meinen Zeichnungen immer wieder ein Motiv auf: ein Faden. Vielleicht ein Echo meiner Mutter, die Schneiderin war. Oder meines Vaters, der mir den rationalen Blick auf die Welt mitgegeben hat. Beides fließt ein – wie eben dieser Faden, der alles verbindet.
In den letzten Jahren sind viele kleine Werke entstanden – und ein wachsendes Archiv an Zeitraffervideos auf Instagram. Wer mag, darf mir dort beim Zeichnen zusehen. Oder hier – ganz analog – auf dem iPad.
Die Linie ist Ursprung. Sie ist nicht nur das erste Zeichen auf dem Papier, sondern auch die elementarste Form des Ausdrucks. In der Kunst von Martin Hümmecke nimmt sie eine besondere Rolle ein: Sie ist kein Werkzeug des Verstandes, keine kontrollierte Formgebung, sondern ein Instrument der Intuition – ein seismografischer Ausdruck innerer Bewegungen. Sie folgt keinem Plan, sondern wächst aus dem Moment heraus. Aus ihr entstehen Räume, Konstruktionen, sogar ganze Welten – ohne Perspektive, ohne Raster, und doch voller rätselhafter Logik.
Im Zentrum vieler Arbeiten steht ein wiederkehrendes Motiv: der Faden. Dieses scheinbar einfache Element trägt eine tiefe symbolische wie strukturelle Bedeutung. Es ist einerseits eine Hommage an die Mutter, die Schneiderin – eine Figur der Verbindung, der Gestaltung, der Fürsorge. Andererseits ist der Faden auch ein philosophisches und physikalisches Prinzip: eine eindimensionale Struktur, die Komplexität trägt, sich verknotet, verschlingt, ausdehnt – und dabei Räume definiert, ohne selbst ein Raumkörper zu sein.
Im Kontext der Topologie wird das Wollknäuel zum faszinierenden Objekt: eine kontinuierliche Linie, die in sich selbst verschlungen ist und dabei eine Form erschafft, die mehrdeutig, offen und dynamisch bleibt. In der vierdimensionalen Betrachtung – Raum plus Zeit – wird der Faden zu einem Träger von Geschichte. Er ist Weg und Erinnerung, Verbindung und Prozess.
Dieser Faden ist kein Ornament. Er ist Strukturgeber, Halt, Brücke und Spurensucher. Er hält nicht nur das Bild zusammen, sondern symbolisiert das größere Gewebe der Welt: wie alles mit allem verbunden ist – biologisch, emotional, physikalisch. In diesem Sinn steht er in der Tradition des Holismus und verweist zugleich auf das Streben der modernen Physik, eine "Theory of Everything" zu formulieren: eine Verbindung der Kräfte, die das Universum zusammenhalten.
Auch aus der Perspektive der Philosophie lässt sich Hümmeckes Werk deuten: Die spontane Linie, die aus dem Unbewussten kommt, erinnert an das Konzept der écriture automatique der Surrealisten, oder an C.G. Jungs Idee der aktiven Imagination – als Methode, unbewusste Inhalte zu visualisieren. Der Faden wiederum ist ein archetypisches Symbol. Er steht für Ariadnes Weg aus dem Labyrinth des Geistes, für die Bindung zwischen Innen- und Außenwelt, für das "rote Band" des Schicksals in fernöstlichen Vorstellungen.
So wird in diesen Arbeiten das Zeichnen zum Akt der Welterschließung – nicht über Ratio, sondern über Resonanz. Die Linie ist Suchbewegung, der Faden ist Bindung. Gemeinsam eröffnen sie Räume jenseits des Sichtbaren, jenseits des Messbaren – aber nicht jenseits des Wirklichen.
Was bleibt, ist ein Eindruck von Tiefe: eine stille, poetische Wissenschaft vom Inneren. Ein Versuch, mit einfachsten Mitteln – Fineliner, Tusche, Gelstift – das Komplexe, das Unaussprechliche sichtbar zu machen. Nicht um es zu erklären, sondern um es zu bezeugen.